… oder: wie Zeit und Passion zum Erfolg führen.
Fangen wir diese Geschichte ausnahmsweise doch einmal von hinten an: Vilmorin & Cie. ist heute eine französische Aktiengesellschaft mit über 7.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von über 1,6 Milliarden Euro. Das es einmal so kommen würde, ahnte die junge Claude Geoffroy nicht, als sie im Jahr 1743 mit schwerem Herzen die Tür der Samenhandlung am Quai de la Mégissrie No. 4 aufschloss. Ihre Mutter, Jeanne Diffetot, war gerade verstorben und hatte ihr die kleine Samenhandlung vererbt. Die Saathandlung hatte einen guten Ruf und junge Claude arbeitete fleißig.
Im Geschäft von Vilmorin am Quai de la Mégissrie 4 kann man auch heute noch wunderbar nach Saatgut stöbern.
1745 heiratete sie Pierre Andrieux. Einen passionierten Gärtner und Züchter, der sich in Gartenkreisen bereits jede Menge Ruhm erworben hatte. Wie alle Saaatguthändler in Paris handelte das Ehepaar Andrieux damals hauptsächlich mit Stroh, Saatgut und Gemüse – aber die Andrieux spezialisierten sich zusätzlich auch auf Kräutern, Zwiebeln, Stauden, Obstbäumen, Ziergehölzen und Sommerblumen. Und, und das war ein absolutes Novum in der damaligen Zeit: Sie veröffentlichten ihr Angebot an Sämereien in gedruckten Handelskatalogen. Die beiden bekamen eine Tochter, Jeanne Marie Adélaide Andrieux, die wiederum einen gewissen Philippe Victoire Lévêque de Vilmorin heiratete. Voilà – nun ist der Firmenname komplett.
Die Kataloge von Vilmorin Andrieux & Cie. waren legendär. Das Unternehmen präsentierte darin jedes Mal Pflanzen, die in Europa bis dahin nicht bekannt waren und Sorten aus dem europäischen Ausland. Man kann es sich heute nur schwer vorstellen, aber Rote Bete, Rüben und Rübchen wurden von Vilmorin & Cie auf unsere europäischen Esstische gehext. Katalog für Katalog wurden absonderliche Gewächse wie Kiwi oder Süßkartoffel dem französischen Gärtnern vorgestellt.
Väter und Mütter kamen und gingen, Kinder wurden geboren. Fast jede Generation der Familie Vilmorin brachte ein botanisches Genie hervor: Philippe André de Vilmorin (1776-1862) interessierte sich besonders für Bäume und gründete das Arboretum Vilmorin sowie das Arboretum national des Barres, die beide noch heute zu besichtigen sind. Louis de Vilmorin (1816-1860) legte 1856 in seiner Abhandlung „Anmerkung zur Schaffung einer neuen Rübenrasse und Überlegungen zur Vererbung bei Pflanzen“, die Grundlagen für die moderne Pflanzenzucht – Jahre vor den Studien des deutschen Botanikers Gregor Mendel, der später die Meriten einheimste. Elisa Bailly de Villmont (1826-1868) leitete die Firma viele Jahre und war spezialisiert auf die Zucht von Walderdbeeren. Charles Philippe de Vilmorin (1843-1899) trieb die Zucht neuer Weizensorten voran. Was soll man sagen: die Jahrhunderte vergingen. Das Geschäft florierte. Geld kam ins Haus. Die Familie baute sich in ihrem Arboretum in Barre ein hübsches kleines Schloss. Der soziale Aufstieg gelang – die Kinder heirateten in den französischen Adel ein und die Sitten wurden ein wenig lockerer. Es gab ein Techtelmechtel mit dem spanischen König Alphons XIII, aus dem ein uneheliches Kind hervorging, das ohne viel Aufhebens in die Firmendynastie integriert wurde. Es gab Familienmitglieder, die zuverlässig für gesellschaftlichen Gesprächsstoff sorgten, wie Louise Lévêque de de Vilmorin (1902-1966) eine Schriftstellerin, die in ihren skandalträchtigen Romanen, nicht immer diskret, die Familiengeschichte der Vilmorins verarbeitete.
Eine kleine Auswahl der umtriebigen Köpfe der Familie Vilmorin. Von links nach rechts: Philippe André de Vilmorin, Louis de Vilmorin, Henry de Vilmorin, Maurice Lévêque de Vilmorin, Louise Lévêque de Vilmorin
Sie war so etwas wie ein It-Girl in Paris, war mit Antoine de Saint-Exupéry verlobt, war mehrfach verheiratet und hatte Affären mit Jean Cocteau, Graf Paul Esterházy und Charles de Gaulle. Sie sehen also: Die Beschäftigung mit Pflanzenzucht muss nicht zwangsläufig in Stricksocken und bei Kamillentee enden. Der Verkauf von Sämereien, Stauden und Sträuchern kann, wenn man die Sache denn 280 Jahre durchhält, zu einem netten Millionenunternehmen führen!
Aber, das Album, werden Sie nun fragen. Was hat das Album mit all dem zu tun?
Den ersten gedruckten Katalog mit Abbildungen des Sortiments an Blumen- und Gemüsesorten, deren Saatgut sie vertrieben gab Vilmorin Andrieux & Cie. im Jahr 1766 heraus. Die Illustrationen der Gemüse, Blumen und Zwiebeln war großartig. Es folgten eine lockere Serie von Publikationen in denen neue Sorten beschrieben und bebildert wurden. Ab 1850 bis 1884 veröffentlichte die Firma jedes Jahr eine große Illustration mit den „besten“ Züchtungen des Jahres. Die Illustrationen dieser Tableaus wurden von bekannten Illustratoren angefertigt. Und diese insgesamt 46 Illustrationen sind schlichtweg umwerfend! Die handkolorierten Lithografien sind unglaublich naturnah, detailverliebt und zart. Diese Blätter sind heutzutage auch antiquarisch kaum noch zu bekommen – an eine vollständige Sammlung ist überhaupt nicht zu denken. Absolute Sammlerstücke! Aber es gibt zahlreiche Nachdrucke. Diese sind natürlich nicht so delikat, aber auch sehr hübsch.
Einzelseiten aus den Saatgutkatalogen der Firma Vilmorin. Prachtvoll koloriert von den besten botanischen Illustratoren der Zeit.
Und wie ging es mit Vilmorin Andrieux & Cie. weiter? Nun, im Jahr 1972, nach 280 Jahren, war Schluss mit der Familie. Die Firma wurde verkauft. Heute ist Vilmorin & Cie. ein Teil des riesigen französischen Genossenschaftsunternehmens Limagrain und hat seinerseits zahlreiche Saatgutunternehmen rund um die Welt geschluckt. Wenn Sie beispielsweise Saatgut des englischen Traditionsunternehmens Sutton Seeds kaufen …. dann klingelt die Kasse bei Vilmorin & Cie.


